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Von Deutschland nach Deutschland
Rüterberg -ein kleines,
ruhiges Dorf im Kreis Ludwigslust, im Sperrgebiet zur "Staatsgrenze West" gelegen. Eingeschlossen-nicht nur von der unberühreten Natur Mecklenburgs, die von riesigen Kiefernwäldern und von den Elbtalauen gezeichnet
ist. Die Elbe war Grenze und somit für uns Dorfbewohner unerreichbar. Obwohl die Entfernung zwischen Dorfstraße und Elbufer stellenweise nur einen Steinwurf betrug, kam es mir vor, als handele es sich um galaktische Weiten. Wer
dies alles nicht erlebt hat, kann sich kaum vorstellen, was so ein Stacheldrahtzaun in mir und sicher nicht nur in mir für Gedanken und Gefühle aufkommen läßt........Wie mag es wohl am anderen Ufer aussehen? Leben dort wirklich
unsere Feinde, die uns nichts Gutes wollen? Oder sind dort Menschen, die sich die selben Fragen stellen? Sowohl bei uns als auch auf der anderen Seite der Elbe wurde doch deutsch gesprochen......warum also nicht selbst die
Antworten auf diese Fragen suchen?
Der Gedanke, dem "Arbeiter und Bauern-Staat" den Rücken zu kehren wuchs langsam aber stetig. Es versteht sich von selbst,das sich mir Fragen wie: Was wird aus Familie und
Freunden?, Kann ich ohne ein Wort gehen? Werde ich alle irgendwann wiedersehen?,aufdrängten, die mir die Entscheidung nicht gerade erleichterten. Was,wenn die Flucht scheitert? Ich war mir dessen völlig bewußt, das wenn ich
mich für eine Flucht entscheide, mit dem Leben spiele.... um leben zu können. Ist es das wirklich wert? In solchen Momenten geht einem so viel durch den Kopf. Die Gedanken fahren Achterbahn und automatisch drehen die Gedanken
die Zeit zurück.
Der Gedanke an die Zeit meiner sorglosen Kindheit in der wir Kinder noch in der Elbe baden und angeln konnten war schmerzlich, als dann auch noch ein Zaun zur Elbe gezogen wurde. Vorbei
war's.....kein herumtollen auf den Elbwiesen mehr...Alles nur zu unserem eigenen Schutz... sagte man. Natürlich dachte auch ich damals, das dies die Wahrheit wäre. Natürlich vermißten wir Kinder unsere kleine Oase. Da
mußten wir eben einen Teil unserer Aktivitäten auf andere Orte verlegen. Die gab es in unserem Dorf zur Genüge. Trotzdem... es fehlte etwas. Uns Kindern war es nie langweilig. Streiche spielt jedes Kind, so auch wir.
Gelegentlich gab es dafür auch schon mal was "hinter die Ohren".Schlimmer war es aber, wenn der ABV der VP sich der Sache annahm.I n dem Fall wurde aus einem Kinderstreich gleich viel mehr gemacht. Aber es ging
auch anders... Wenn es im Dorf etwas zu tun gab, waren wir mit vollem Eifer dabei. Egal, ob es galt, Dorffeste, Feuerwehrfeste etc. auszurichten und vorzubereiten, oder für die Jugend etwas auf die Beine zu stellen. Der
Zusammenhalt im Dorf war einfach genial. Es war einfach einer für den anderen da.Trotz allem hatte ich immer die Elbe im Auge. Der Gedanke an die andere Seite ging mir trotz aller Annehmlichkeiten nicht mehr aus dem Sinn.
Ich mag gar nicht daran denken, welchen Schikanen von Seiten des Staates, man ausgesetzt war...Zum Beispiel mußte ich mit ansehen,wie Grenzsoldaten jemanden auf brutale Weise mit dem Gewehrkolben an den Kopf schlugen. Dies
geschah angeblich wegen Angriff auf die "bewaffneten Organe",was in keinster Weise der Fall war. Der mir gut Bekannte hat wegen dieser Sache ein paar Jahre einsitzen müssen und hatte Verbot, unser Dorf,in dem auch
seine Familie lebte,zu betreten......Auch für mich war dies wieder einmal ein Beweis dafür, das man sich sehr in acht nehmen mußte...darf ich sagen,was ich denke? Oder könnte es dann auch für mich gefährlich werden? Man wird
und macht sich zum Mitläufer, weil man sich entschließt, für sich zu behalten, was man wirklich denkt. Ja man nimmt hin, das am Abend um 23 Uhr nicht mehr daran zu denken ist, zurück in den Ort zu kommen, wenn man außerhalb
war. Es gab gewissermaßen Öffnungszeiten für die Bewohner. Ein Schild mit der Aufschrift : „geöffnet von 5-23 Uhr ...nur für Bewohner mit gültigem Ausweis“ fehlte allerdings. Jeder Bewohner hatte in seinem Ausweis einen
Stempel,der es erlaubte, die Kontrollstelle zu passieren. Eigentlich könnte man sagen, das ich in einem der sichersten Orte gelebt habe. Ja man hat sehr auf uns aufgepasst .
Ende der 60er Jahre war es dann auch für mich an der Zeit,mich nach einer Lehrstelle umzusehen. Was lag da näher,als es dort zu versuchen,von wo aus man die Möglichkeit hat,mal etwas anderes kennen zu lernen? Schon immer
hatte ich einen riesigen Drang zum Wasser, also bewarb ich mich bei einigen Reedereien natürlich immer mit dem Traumziel "Kapitän auf große Fahrt". Nein keine Chance! Ich versuchte es dann über Umwege zum
Beispiel im Hafen, bei Werften usw. .Wieder nichts. Ja es sollte ein Traum bleiben. Viele Jahre später,nach der Wende sollte ich erfahren, was ich mir selbst schon gedacht hatte. Auf Grund dessen,das ich Verwandtschaft im
Westen hatte, hat man mich nicht genommen. Noch bei der Musterung habe ich nichts unversucht gelassen, doch noch aufs Wasser zu kommen. Da ging natürlich aus den selben Gründen,nichts. Ich habe dann eine Lehre als Zerspaner
begonnen. Dies tat ich eher widerwillig und das Verlangen, das Land zu verlassen, wurde stärker.Trotz allem machte ich meine Lehre. Anschließend war dann auch für mich die Zeit gekommen, zur NVA zu gehen. Jetzt sollte ich dem
Staat, der mir meine Zukunft gründlich verbaut hatte auch noch dienlich sein? Nein danke! Nicht mit mir! Da ich aber überhaupt nicht bereit war, Dienst an der Waffe zu leisten und das müßte ich auf jeden Fall, habe ich mich
doch entschlossen, die DDR illegal zu verlassen. Das Maß war entgültig voll!
Wir schrieben Juli 1972 und ich war 18 Jahre alt. Für mich gab es jetzt kein Zurück mehr. Sicher war mir klar, das mir, wenn ich es
schaffen sollte, keine gebratenen Tauben in den Mund fliegen würden. Ich würde schon irgendwie Fuß fassen. Zweifel durfte ich jetzt nicht mehr haben. Nun hieß es planen. Den Ablauf an der Grenze hatte ich ja im Laufe der
Zeit mitbekommen. Und der Zaun? Naja, der wird das kleinere Übel sein. Gefährlicher, dachte ich, wird die Elbe sein, die doch eine enorme Strömung hat und die nicht zu erkennenden Strudel. Hinzu kam noch,das ich nicht ganz
genau wußte, wo die Wachposten ihre Stellung bezogen hatten. Dies war mein größtes Risiko. Deshalb entschlosss ich mich, die Aktion des nachts, von einer Stelle aus, von der ich glaubte, das ich dort einigermaßen sicher bin,
stattfinden zu lassen. Ich begann also zu überlegen, was jetzt das wichtigste ist, was zu bedenken war und was ich mitnehmen mußte. Der Personalausweis fiel mir ein. Der mußte natürlich wasserdicht verpackt werden, genauso
wie das Verbandszeug, das ich ebenfalls verpackte. Ich musste doch damit rechnen, das was schief gehen kann.
Wir schrieben den 22.Juli 1972. Es war ein Samstag und das Wetter war einfach herrlich. Ich lief den
ganzen Tag durchs Dorf. Dies war meine Art des Abschiednehmens....konnte ich doch niemanden in mein Vorhaben einweihen. Was mag schon morgen sein?.....Die innere Unruhe machte sich im ganzen Körper breit. War mein Entschluß
jetzt zu gehen, der Richtige? Mir war klar, wenn jetzt ,dann ist es für immer. Die Zeit bis zum Abend kam mir wie eine Ewigkeit vor. Alles bis dahin erlebte, lief wie ein Film vor meinen Augen ab. Eine Frage beschäftigte mich
immer stärker. Was wird aus meinen Eltern und den Geschwistern? Sicher würde für sie eine Welt zusammenbrechen. Was für Schikanen werden sie wohl über sich ergehen lassen müssen? Werde ich sie alle nie mehr wieder sehen.......?
Gegen Abend war es dann vorbei mit schönem Wetter. Es wurde richtig ungemütlich und zu allem Überfluß fing es auch noch an zu regnen. Jetzt durch die Elbe? Oder besser doch erst morgen? Ja...morgen.
Sonntag der 23.Juli 1972. Dies sollte mein Tag sein...oder nicht? Es war sehr viel los auf der Elbe. Die Patrouillienbote fuhren und einige Ausflugsdampfer nutzten das schöne Wetter für eine Elbfahrt. Für mich sah dies alles
nicht gut aus...ich brach ab.
Montag der 24.Juli 1972. Dieser Tag wäre mein erster Arbeitstag nach dem Urlaub gewesen. Nein ich fuhr nicht zur Arbeit. Heute mußte es geschehen. Der 24.Juli1972 sollte mein und auch das
Leben meiner Eltern und Geschwister grundlegend verändern. Für mich zum Vorteil, für meine Familie zum Nachteil. Der Tag fing sehr schön an und die Sonne tat das Ihrige dazu .
Am Morgen hörte ich einen Hubschrauber
vom BGS. Ich glaube sogar er hat mich geweckt. Sollte das ein gutes Omen sein? Ich dachte mir, wenn der jetzt fliegt, kommt sicher auch noch das Zollboot aus Hitzacker. Genau so geschah es dann. Nun konnte ich umdenken und
meinen Plan ändern. Warum nicht abwarten bis sie zurück kommen und dann den Sprung in die Elbe wagen? So sollte es sein. Ich hoffte auf die Hilfe der Besatzung des Zollbootes. Den Tag verbrachte ich ähnlich wie schon den
Samstag. Oft ging ich an die Stelle, an der der Wachturm stand um Ausschau nach dem Zollboot zu halten. Von hier hatte ich den besten Blick auf die Elbe. Es war normal, das sich Dorfbewohner hin und wieder am Zaun aufhielten,
zudem war der Wachturm verwaist, so fiel ich auch nicht sonderlich auf.
Als ich am späten Nachmittag wieder meinen Rundgang durchs Dorf machte, hörte ich das Motorengeräusch des Zollbootes. Dies war für mich das
Zeichen, mich auf den Weg zu machen, zu der Stelle, die ich als am günstigsten erachtete...der Schiffsanleger an der Ziegelei. Das Boot näherte sich und ich winkte, um auf mich aufmerksam zu machen .Als ich bemerkt wurde, wurde
der Motor gedrosselt. Für mich war dies ein klares Zeichen, jetzt über den Zaun zu klettern. Es näherte sich ein LKW, als ich schon faßt oben war. Sollte das alles gewesen sein? Nichts als runter vom Zaun, über die Straße und
mich an eine Hauswand gedrückt. Das Zollboot hatte gedreht und fuhr langsam gegen den Strom...ja es stand beinahe. Als der LKW vorbei war, niemand hatte mich gesehen, rannte ich los. Ich mußte jetzt einfach über den Zaun. Oben
angekommen, drehte ich mich noch einmal um. Ich hatte plötzlich das Gefühl als würde ich bei meinem Vorhaben beobachtet werden.So war es dann auch. Ich sah eine Person die ich aber nicht erkannte in der Haustür. Obwohl ich nie
eine Sportskanone gewesen bin ,habe ich den Zaun in einer Windeseile überwunden. Ängste setzen nie geahnte Kräfte frei. Jetzt hatte ich noch 5-10 Meter, ich weis es nicht genau, bis ich an der Kaimauer ankam. Ich sprang ohne
darüber nachzudenken, wie tief bzw. flach das Wasser war. Unten angekommen stellte ich fest, das mir das Wasser nur knapp bis zu den Knien reichte. Ich weis nicht wie hoch die Mauer war, aber, das ich bei vollem Bewußtsein nie
gesprungen wäre. Nun hieß es durchhalten und schwimmen was das Zeug hielt. Das Zollboot verlor ich dabei nie aus den Augen und war froh, als ich es endlich erreichte. Das Boot wurde quer gestellt, so das ich geschützt vor den
Blicken der Insassen des Patrollienbootes und eventuellen Schüssen aufklettern konnte. Ich war naß wie ein Pudel ........aber glücklich.
GESCHAFFT!!!
In diesem Moment fiel eine riesige Last von mir ab. Ich
war erleichtert. Dies war der Tag, an dem ich eine Neue Welt für mich entdecken sollte und einer der Tage in meinem Leben, den ich nie vergessen sollte. Meinen 19. Geburtstag feierte ich also in einer Welt, vor der wir immer
gewarnt wurden. Nun konnte ich mir selbst ein Bild davon machen und mußte feststellen, was ich lang schon wußte....wir wurden belogen... Den Sprung, der mein Leben total veränderte habe ich bis heute nicht eine Sekunde
bereut. Freiheit ist etwas herrliches.
Ganz anders war es natürlich für meine Familie. Über Nacht mußte sie alles zusammenpacken und das Dorf verlassen. Zudem mußte mein Vater, der als Offizier der Grenztruppen tätig
war, seine Uniform an den Nagel hängen. Warum mußten meine Eltern und Geschwister jetzt darunter leiden? Ich war doch volljährig und "durfte" wählen...und hätte die SED-Regierung "beschützen" dürfen...mit
der Waffe in der Hand. Aber wovor, vor wen? Aber leben, wie ich es wollte, durfte ich nicht? Ich habe schnell eine neue Heimat zwischen Weserbergland und Teutoburger Wald gefunden und mich relativ schnell eingelebt. Nie
brauchte ich mich auf Grund meiner Herkunft verstecken. Im Grunde ist dies trotz allem nur meine "Wahlheimat"...im Herzen bin und bleibe ich Mecklenburger. So ist es wohl auch nicht verwunderlich, das es mich immer
wieder in die Heimat zieht. Aus Neugier, was sich alles in unserem Dorf getan hat, besuche ich hin und wieder auch Rüterberg. 1989 bin ich das erste mal nach meiner Flucht wieder dort gewesen und stellte fest, das sich kaum
etwas verändert hatte. So hatte ich das Gefühl, als wäre ich nur kurze Zeit weg gewesen. Alles war wieder so vertraut. Als ich dann aber noch einmal unser Haus sehen wollte, wurde mir plötzlich ganz anders. Das Haus gab es
nicht mehr...dem Erdboden gleich gemacht. Alles war verwildert als ob nie jemand dort gewohnt hätte. Auch die anderen Hauser des Ortsteil’s Broda gab es nicht mehr. Für mich war es sehr traurig, anzusehen, wozu ein Staat in der
Lage ist. Seit der Wende 1989 ist dann auch an Rüterberg die Zeit nicht spurlos vorüber gegangen. Das Dorf erstrahlt in neuem Glanz. Viele neue Häuser wurden dort gebaut. Es ist eine schöne, moderne Siedlung entstanden. An
den grauenhaften Zaun der "Unmenschlichkeit" erinnert heute eine kleine Gedenkstätte. Die Geschichte der Gründung der "Dorfrepublik" ist ebenso interessant,wie die Geschichte des Dorfes selbst.
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